Dreh- und Angelpunkt Beziehung

von Detlev Vogel und Matthias Rüst

Besser unterrichten durch Beziehung
Foto © Mägi Brändle

Du willst deine Schülerinnen und Schüler erreichen, Lernbereitschaft fördern und auch mit auffälligem Verhalten souverän umgehen? Hier erfährst du, was das mit Stress, Achtsamkeit und eurer Beziehung zu tun hat.

Der Lehrberuf ist ein Beziehungsberuf. Die Qualität der Beziehungen im Klassenzimmer stellt einen wichtigen Entlastungs- oder Belastungsfaktor für dich als Lehrkraft dar. Sie ist auch die Grundlage für effektives Lernen und hat bedeutende Folgen für die persönliche Entwicklung der Schülerinnen und Schüler. In der Schule wird – zurecht – sehr viel Energie in die Gestaltung eines anregenden Unterrichts investiert. Der emotionalen Dimension von Beziehungs- und Bildungsprozessen wird bisher jedoch eher wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Kann Achtsamkeit hier zu einem Kurswechsel beitragen? Wir sind überzeugt: Ja!

Was brauchen Heranwachsende?

Die Beziehung zu nahestehenden Bezugspersonen wie Eltern und Lehrenden ist für die gesunde Entwicklung der Kinder und Jugendlichen von elementarer Bedeutung. Ihr natürliches Bedürfnis ist, sich sicher, gesehen, zugehörig, selbstwirksam und autonom zu fühlen, was von uns Erwachsenen – oft unbewusst – gefördert oder gehemmt wird.


selbstwirksam autonom sicher zugehörig gesehenFoto © Mägi Brändle

Auswirkungen von Stress

Ein hoher Anteil der Schülerinnen und Schüler ist von Stress, unsicheren Bindungen und anderen psychischen Belastungen betroffen. Große gesellschaftliche Krisen, wie die Coronarvirus-Pandemie, der Krieg in der Ukraine oder der fortschreitende Klimawandel, verstärken diese Tendenz zusätzlich. Dies äußert sich im Klassenzimmer durch Konzentrationsschwierigkeiten, mangelnde Motivation und auffälliges bzw. störendes Verhalten – einige der größten Stressfaktoren für dich als Lehrkraft. Aus der Stressforschung ist jedoch bekannt, dass besonders die Beziehungsfähigkeit durch Stress beeinträchtigt wird. Auf den Punkt gebracht: Ein regelmäßig hohes Stressniveau der Lehrkraft ist eines der größten Hindernisse für konstruktive Beziehungen und positives Klassenklima.

StressFoto © Mägi Brändle


Was fördert Beziehungen?

Sicher ist dir zwar die Bedeutung einer guten Lehrer-Schüler-Beziehung bewusst, aber du fragst dich vielleicht: Wie genau gelingt es, eine gute Beziehung zu allen Lernenden aufzubauen? Aus der Forschung weiß man heute recht genau, welches Verhalten und welche Sprache einer guten Beziehung förderlich sind – und auch, welches Verhalten wie ein Beziehungskiller wirkt.

Das auf der Achtsamkeitspraxis basierende „dreidimensionale Beziehungsmodell für Lernbereitschaft und eine gesunde sozio-emotionale Entwicklung“ zeigt ganz konkret, was du als Lehrkraft für eine gute Beziehung zu deinen Schülerinnen und Schülern tun kannst. Es bringt eine persönliche Achtsamkeitspraxis mit drei Dimensionen und deren praktischen Verhaltensmarkern zusammen:

Wohlwollen & Zuwendung: In dieser Dimension geht es darum, dein heranwachsendes Gegenüber zu sehen und auf seine emotionalen Bedürfnisse einzugehen. Diese Dimension wird auch als „Responsivität“ bezeichnet, also dein flexibles und wohlwollendes Antworten auf die Bedürfnisse von Schülerinnen und Schülern. Du gibst, die Kinder und Jugendlichen erhalten.
Verhaltensmarker-Beispiele:

  • Feinfühligkeit: Du lässt die Lernenden das Maß an körperlicher Nähe bestimmen und wahrst dabei deine eigenen Grenzen. Du spiegelst Emotionen der Lernenden, indem du Mimik und Stimme der Situation anpasst.
  • positive Kommunikation: Du verwendest eine höfliche Sprache, lächelst und lachst häufig, suchst auf Augenhöhe Blickkontakt mit den Lernenden.
  • Interesse zeigen: Du zeigst Offenheit und Neugier gegenüber den persönlichen Interessen der Lernenden. Du bestätigst das Tun der Lernenden und drückst ruhig dein Zutrauen an sie aus (nicht anfeuern, sondern ggf. nur durch Blicke).

Führung & Struktur: Kinder und Jugendliche brauchen von ihren Bezugspersonen verständliche und klare Strukturen, die einen Rahmen schaffen und ihnen Sicherheit und Halt bieten. Du forderst von deinen Schülerinnen und Schülern ein, was an Erwartungen ihnen gegenüber explizit formuliert besteht.
Verhaltensmarker-Beispiele:

  • klare Erwartungen: Du kommunizierst klare Regeln und triffst Vereinbarungen. Deine Worte und Taten stimmen überein, sodass du Konsistenz und Konsequenz bietest.
  • Proaktives Handeln: Du zeigst Präsenz, schaust nach allen Lernenden. Übergänge kündigst du an und gestaltest sie klar und flüssig. Positives Verhalten nimmst du bewusst wahr und bestätigst es.
  • Umgang mit Störungen: Für erwünschte Verhaltensänderungen gibst du nonverbale Hinweise durch Blicke, Berührungen und Präsenz. Nötige Korrekturen hältst du knapp, indem du kurz sagst, wie du es haben möchtest. In kritischen Momenten hältst du kurz inne, um eigene Reaktivitätsimpulse wie Ärger wahrzunehmen. Bei gravierenden Störungen setzt du klar und entschieden eine Grenze und drückst deine Erwartungen für angemessenes Verhalten aus.

Autonomie & Verantwortung: Deine Schülerinnen und Schüler brauchen auch Freiheiten in Form von Entscheidungs-, Wahl- und Ausdrucksmöglichkeiten, denn sie haben ein für ihre Entwicklung essenzielles Bedürfnis nach Autonomie, Selbstverantwortung, Mitsprache und Mitbestimmung. Dies ermöglicht Eigeninitiative, Kreativität und Selbstwirksamkeit. Auf Grundlage einer sicheren Beziehung und im Rahmen bestimmter Regeln können Kinder und Jugendliche explorieren und eigene Erfahrungen sammeln. An dir ist es, ihnen Selbstverantwortung zu ermöglichen.
Verhaltensmarker-Beispiele:

  • Selbstverantwortung: Du gestehst Lernenden eigene Entscheidungen zu und gibst Wahlmöglichkeiten. Du lässt Lernende mithelfen, auch wenn es länger dauern sollte.
  • Mitsprache: Du reagierst flexibel auf Bedürfnisse und aktuelle Vorkommnisse und ermöglichst Lernenden die Übernahme von Führung und Mitgestaltung.
  • Ausdrucksmöglichkeiten: Du entlockst Lernenden Ideen und eigene Perspektiven, nimmst ihre Ideen ernst, greifst sie auf und lässt Raum für Kreativität, Spiel und Bewegung.


Als Lehrkraft bewegst du dich ständig in diesen drei Dimensionen – bewusst oder unbewusst. Jede Handlung in Bezug auf die Klasse oder einzelne Schülerinnen und Schüler ist eine spezifische Mischung aus Wohlwollen & Zuneigung, Führung & Struktur sowie Autonomie(-förderung) & Selbstverantwortung; oder deren relative Abwesenheit. Dabei spielt oft nicht die Handlung selbst eine Rolle (zum Beispiel eine neue Aufgabe zu verteilen oder die Frage einer Schülerin zu beantworten), sondern die konkrete Umsetzung. Die Dimensionen legen den Fokus somit oft auf das Wie.


Die drei DimensionenFoto © Mägi Brändle


Guter Unterricht ist durch die verschiedensten Strategien der Lehrkraft geprägt, in denen alle drei Dimensionen eine Rolle spielen. Letztlich gibt es jedoch kein ideales „achtsames Verhalten“ und kein Richtig und Falsch, sondern eher ein Kontinuum mit den Polen „bewusstes und achtsames Agieren“ an einem Ende und „automatisches, unbewusstes Reagieren“ am anderen Ende. Und die Achtsamkeitspraxis kann dich dabei unterstützen, dich öfter an den Punkt auf dem Kontinuum zu bringen, wo du selbst gerne wärst.


Achtsam unterrichtenFoto © Mägi Brändle


Achtsamkeitspraxis als Grundlage

Achtsamkeitspraxis bedeutet, sich jeden Tag etwas Zeit für sich zu nehmen, still zu werden und zum Beispiel den Atem zu beobachten oder sich der eigenen Gefühle bewusst zu werden. Eine regelmäßige Praxis kann dir helfen, im turbulenten Schulalltag so etwas wie einen Fels in der Brandung in dir zu haben – vielleicht kannst du dann in kritischen Momenten ruhiger und klarer bleiben. Eine Achtsamkeitspraxis stärkt auch die Selbstwahrnehmung und Lebensfreude – die beste Grundlage für den Aufbau von gelingenden Beziehungen in der Klasse.

Besser unterrichten durch Beziehung

Die Autoren

Detlev Vogel

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Detlev Vogel

lehrt und forscht als Erziehungswissenschaftler an der Pädagogischen Hochschule Luzern. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Beziehungsgestaltung, beziehungsorientierter Umgang mit auffälligem Verhalten sowie Achtsamkeit in Schule und Lehrpersonenbildung. Er ist Autor zahlreicher Publikationen.

Matthias Rüst

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Matthias Rüst

ist MBSR-Lehrer, Geschäftsführer von MoMento Swiss sowie Programmautor und Lead Trainer des MoMento Programms zur Förderung von Achtsamkeit, Verbundenheit und Lebenskompetenzen in Schulen und Familien.

 

 

Unsere Tipps zum Weiterlesen:

Elternarbeit   Leseförderung   Entspannungsübungen


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