Dyskalkulie
Dyskalkulie erkennen
Zwei bis acht Prozent aller Schülerinnen und Schüler sind von Dyskalkulie betroffen. Die Wahrscheinlichkeit, dass mindestens eine Person deiner Klasse Dyskalkulie hat, ist also groß. Aber woran erkennst du Dyskalkulie und bei welchen Warnsignalen solltest du aktiv werden?
Du kennst das sicher aus dem Unterricht: Robin zählt „eins, drei, vier, zwei, …“. Emma fällt es schwer, bei einem Baustein und drei Bausteinen die Mengen richtig zu vergleichen. Güngör berechnet „3 + 1“ mit seinen Fingern. Paul schreibt E statt 3 und verwechselt manchmal 5 mit S. Rabbea kann zwar einem Baustein die Ziffer 1 zuordnen, drei Bausteinen die Ziffer 3 und vier Bausteinen die Ziffer 4, sieht aber nicht den Zusammenhang von einem Baustein neben drei Bausteinen und vier Bausteinen sowie der Rechnung „1 + 3 = 4“.
Wenn das isoliert und selten auftritt, dann ist das kein Problem, vor allem zu Beginn der Grundschule. Wenn ein Fehlertyp während der Einführungsphase eines Themas häufiger auftritt, ist dies auch erwartbar. Wenn aber mehrere solche Fehler bei einem Kind regelmäßig auftreten, und das noch in der zweiten Klasse oder später, dann wird es spätestens Zeit, eine genauere Diagnostik anzustoßen.
Was sind Warnsignale für Dyskalkulie?
Deine primäre Aufgabe als Lehrkraft ist nicht die medizinische Diagnose, sondern das betroffene Kind im Unterricht zu beobachten: seine Lernstände und den Lernprozess. Dafür bieten fast alle Seiten der Kultusministerien informelle Verfahren und Handreichungen. Allgemein geht es darum, auf folgende Warnsignale zu achten:
Checkliste für typische Schwierigkeiten bei einer Dyskalkulie Die Schülerin / Der Schüler …
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Wenn es für das Kind ungünstig läuft, kann es von dir als Lehrkraft abhängen, ob die Dyskalkulie überhaupt diagnostiziert wird, wenn z. B. Eltern selbst keine ausreichende Vorbildung haben, selbst (ggf. unwissentlich) betroffen sind oder wenn Kinder nicht regelmäßig an den pädiatrischen Vorsorgeuntersuchungen teilnehmen können, auch im Kindergarten nicht genau genug beobachtet wurde. Nicht selten werden zwar Schwierigkeiten beobachtet, aber noch abgewartet in der Hoffnung, dass die Entwicklung nur leicht verzögert ist und sich das von selbst gibt. Aber das ist in aller Regel nicht der Fall!
Augen auf beim Schuleintritt!
Achte daher als Grundschullehrkraft beim Übergang in die Grundschule darauf, dass die Basisfertigkeiten vorliegen, allen voran das Mengen- und Zahlenverständnis sowie die Zählfertigkeit als Vorläuferfertigkeiten fürs Rechnen.
Checkliste für Warnsignale beim Übertritt in die Grundschule
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Dyskalkulie endet nicht beim Übertritt in die weiterführende Schule
Und achte auch als Sekundarstufenlehrkraft beim Übergang (und auch später) darauf, ob die Basisfertigkeiten und die grundlegenden Rechenkompetenzen vorliegen. Falls es in der Grundschule nicht erkannt wurde, wird es allerhöchste Zeit, damit betroffene Schülerinnen und Schüler noch die nötige Unterstützung erhalten können.
Checkliste für Warnsignale beim Übertritt in die Sekundarstufe Die Schülerin / Der Schüler …
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Schau hin und werde aktiv!
Werde aktiv, sobald dir große Schwierigkeiten bei den Basisfertigkeiten und beim Rechnen auffallen. Denn je früher die nötige Diagnostik erfolgt und passgenaue Förderung einsetzt, desto besser ist die Prognose der Betroffenen.
Die finale, medizinische Diagnose von Dyskalkulie gemäß ICD-10 (F81.2) ist nicht deine Aufgabe als Lehrkraft. Diese dürfen vor allem Ärztinnen oder Ärzte für Jugendpsychiatrie und Psychotherapie, approbierte Kinder- und Jugendpsychotherapeutinnen oder -therapeuten stellen. Diese Diagnostik ist eine Kassenleistung, wenn die Eltern eine Überweisung vom behandelnden Kinder- bzw. Jugendarzt vorlegen.
WICHTIG:Andere, nicht medizinische Testungen, z.B. von Nachhilfeinstituten, werden nicht als gleichwertige Diagnostik akzeptiert. Sie sind oft teuer und helfen überhaupt nicht, wenn es z. B. um Kostenübernahme durch das Jugendamt geht. |
Literatur
Bundesverband Legasthenie und Dyskalkulie e. V (2020): Legasthenie in der Schule. Handreichung für Lehrkräfte, URL: https://www.bvl-legasthenie.de/images/static/pdfs/bvl/10__Lehrer_Dyskalkulie_2020.pdf, Berlin.
Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie e. V. (DGKJP) et al. (2018): S3-Leitlinie Diagnostik und Behandlung der Rechenstörung. Medizin, URL: https://register.awmf.org/de/leitlinien/detail/028-046, AWMF Portal der wissenschaftlichen Medizin. Berlin. (Zugriff: 15.06.2023)
Haberstroh, S. (2020): Das kognitive Profil der Rechenstörung. Dissertation, LMU München: Medizinische Fakultät. Doi: 10.5282/edoc.25865.
Haberstroh, S. (2020): Leitliniengerechte Diagnostik und Förderung von Kindern mit Rechenstörung, URL: https://www.hogrefe.com/de/index.php?eID=dumpFile&t=f&f=3045&token=54ff38ce843deb21b76fc916650cdccfaafa0af6, Vortragsfolien vom 10. Frankfurter Forum 2020: Umgang mit Lernstörungen. (Zugriff: 15.06.2023)
10 Tipps für den Umgang mit Dyskalkulie im Unterricht
In fast jeder Klasse gibt es ein oder zwei Lernende mit Dyskalulie. So kannst du Betroffene im Unterricht unterstützen.
1. Fortschritte ermöglichen und sichtbar machen
Zeige Lernenden mit Dyskalkulie regelmäßig ihre Lernfortschritte auf, auch wenn diese gering sind. Diese Lernenden brauchen dringend Ermutigung, Motivation und Erfolgserlebnisse, da sie oftmals an ihren Leistungen verzweifeln.
2. Individuelle Stärken bewusst machen, gezielt das Selbstbewusstsein fördern
Lernende mit Dyskalkulie sollten nicht auf ihre Teilleistungsstörung reduziert werden. Wie jeder Mensch haben sie Begabungen, auf die sie stolz sein und aus denen sie Selbstbewusstsein ziehen können. Achte darauf, dass du sie auch in ihren Stärken wahrnimmst, und spiegele ihnen das so oft wie möglich konkret: „Das hast du sehr treffend ausgedrückt.“, „Dein Einfall für den Sketch gefällt mir.“…
3. Strukturiert, einfach, übersichtlich
Stelle die Inhalte strukturiert und mit Visualisierungen dar, verwende möglichst einfache Erklärungen. Gestalte Arbeitsblätter möglichst übersichtlich und lasse reichlich Platz für Nebenrechnungen. Manchen Lernenden mit Dyskalkulie helfen größere Kästchen und Zahlen. Probiere es aus und lasse dir dazu Feedback geben.
4. Digitale Unterstützung anbieten
Mathematische Software wie GeoGebra und Tabellenkalkulationsprogramme wie Excel oder LibreOffice Calc können Schülerinnen und Schüler der Sekundarstufe unterstützen, sei es bei geometrischen Aufgaben oder z.B. bei Mittelwertberechnungen. Führe sie in diese Software ein und ermutige sie, diese zu nutzen, denn sie leistet einen Beitrag zur Veranschaulichung, fördert das Verständnis und hilft den Schülerinnen und Schülern, mit dem Unterrichtsstoff vertrauter umzugehen.
5. Link-Tipps für das häusliche Arbeiten anbieten
Oft ist es hilfreich, sich Inhalte und Erklärungen in Ruhe und wiederholt zu Hause anzuschauen. Video-Tutorials haben sich dabei als sehr hilfreich erwiesen. Drehe eigene Erklärvideos begleitend zum Unterrichtsstoff oder biete konkrete Link-Tipps für das häusliche Arbeiten an. Die Lernenden könnten auch selbst nach Videos suchen, aber die könnten wegen anderer Begriffe oder Vorgehensweisen eher verwirren als unterstützen.
6. Nachteilsausgleich gewähren
Nur knapp die Hälfte der Bundesländer sieht überhaupt vor, Grundschulkindern einen Nachteilsausgleich zu gewähren. Zumindest im Unterricht kannst du aber unabhängig von der Schulform und dem Bundesland mehr Zeit für Aufgaben gewähren, Hilfsmittel anbieten usw.
7. Bloßstellung vermeiden, aber Profilierung ermöglichen
Vermeide unbedingt Bloßstellung. Verlange niemals, dass Lernende mit Dyskalkulie im Klassenverband Rechenergebnisse vorstellen müssen, wenn sie sich nicht von sich aus melden. Biete ihnen aber trotzdem immer wieder Aufgaben an, mit denen sie sich vor der Klasse profilieren können, wenn sie mögen und es sich trauen.
8. Ruhigen Arbeitsplatz bieten
Stelle sicher, dass Lernende mit Dyskalkulie nicht am Fenster sitzen, denn das vermindert ihre Konzentration und lenkt sie vom Unterricht ab. Achte darauf, dass sie möglichst ruhige Sitznachbarinnen oder -nachbarn haben bzw. in einem ruhigen Umfeld sitzen.
9. Die Lernenden fragen, was funktioniert
Wie lernst du am besten? Was hilft dir? Was hindert dich? Sprich diese Fragen regemäßig an. Beachte die Antworten der Schülerinnen und Schüler im weiteren individuellen Lernprozess.
10. In jedem Fach auf Lernende mit Dyskalkulie achten
Nicht nur der Mathematikunterricht fordert Lernende mit Dyskalkulie heraus, sondern auch in vielen anderen Fächern. Wann? Immer wenn sie mit Grafiken und Statistiken zu tun haben oder wenn sie z.B. Formeln anwenden (Physik), Reaktionsgleichungen aufstellen (Chemie), mit dem Maßstab umgehen (Geografie), sich Jahreszahlen einprägen oder historische Ereignisse einordnen sollen (Geschichte), mit Intervallen und Notenwerten zu tun haben (Musik), mit Mengen und Einheiten umgehen müssen (Hauswirtschaft), etwas abmessen oder sich visuell-räumlich merken müssen (Werken oder auch Sport).
Literatur
Bundesverband Legasthenie und Dyskalkulie e. V (2020): Legasthenie in der Schule. Handreichung für Lehrkräfte, URL: https://www.bvl-legasthenie.de/images/static/pdfs/bvl/10__Lehrer_Dyskalkulie_2020.pdf, Berlin.
Haberstroh, S. (2020): Leitliniengerechte Diagnostik und Förderung von Kindern mit Rechenstörung, URL: https://www.hogrefe.com/de/index.php?eID=dumpFile&t=f&f=3045&token=54ff38ce843deb21b76fc916650cdccfaafa0af6, Vortragsfolien vom 10. Frankfurter Forum 2020: Umgang mit Lernstörungen. (Zugriff: 15.06.2023)
Wichtige Fakten über Dyskalkulie
In fast jeder Klasse gibt es ein oder zwei Lernende mit Dyskalulie.
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4 Synonyme gibt es für das Phänomen: Zum einen gibt es den Begriff Dyskalkulie. Das ICD-10 spricht von Rechenstörung, die Kultusministerkonferenz von Schwierigkeiten beim Erwerb des Rechnens, eine vierte Bezeichnung ist Rechenschwäche. Quelle: Bundesverband Legasthenie und Dyskalkulie e. V (2020): Legasthenie in der Schule. Handreichung für Lehrkräfte, URL: https://www.bvl-legasthenie.de/images/static/pdfs/bvl/10__Lehrer_Dyskalkulie_2020.pdf, S. 5. |
2 bis 8% ist die Prävalenz der Rechenstörung, was sie zu einer häufigen Entwicklungsstörung macht. Sie geht häufig mit weiteren psychischen Auffälligkeiten einher. Untherapiert bildet sie sich nicht zurück (persistiert). Eine Rechenstörung beeinträchtigt die Betroffenen häufig deutlich im schulischen, beruflichen und im privaten Bereich. Quelle: „Diagnostik und Behandlung der Rechenstörung“, URL: https://register.awmf.org/de/leitlinien/detail/028-046, S. 8. |
2003 hat die Kultusministerkonferenz ihren Beschluss „Grundsätze zur Förderung von Schülerinnen und Schülern mit besonderen Schwierigkeiten im Lesen und Rechtschreiben oder im Rechnen“ gefasst, der 2007 zuletzt überarbeitet wurde. Dort wird betont, Rechenstörungen könne man nicht mit LRS gleichsetzen. Außerdem seien Ursache, Entstehung und Ausprägung der Rechenstörungen nicht hinreichend erforscht. Der Beschluss gesteht den Ländern lediglich zu, Schülerinnen und Schülern mit manifesten Rechenstörungen in der Primarstufe gewisse Formen des Nachteilsausgleichs zu gewähren. Kultusministerkonferenz (2003): Grundsätze zur Förderung von Schülerinnen und Schülern mit besonderen Schwierigkeiten im Lesen und Rechtschreiben oder im Rechnen, URL: https://www.kmk.org/fileadmin/veroeffentlichungen_beschluesse/2003/2003_12_04-Lese-Rechtschreibschwaeche.pdf, (Beschluss der Kultusministerkonferenz vom 04.12.2003 i.d.F. vom 15.11.2007), S. 5. |
7 Bundesländer haben seitdem schulrechtliche Regelungen zur Dyskalkulie verabschiedet, die entsprechend schon mit dem Übergang in die weiterführende Schule enden. |
2018 erschien die Leitlinie „Diagnostik und Behandlung der Rechenstörung“, an der federführend die Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie e. V. (DGKJP) beteiligt war, unter Beteiligung zahlreicher weiterer Fachgesellschaften und Verbände. Die Empfehlungen gelten gleichermaßen für Kinder, Jugendliche und Erwachsene, bei denen eine Rechenstörung vorliegt. |
95 % Zustimmung gab es bei den Verfasserinnen und Verfassern der Leitlinie, dass Rechenstörungen eine umschriebene Entwicklungsstörung schulischer Leistungen sind, genau wie Lese- und/oder Rechtschreibstörungen: Diese Störungen sind ICD-10 (F81.2) wie auch im DSM definiert, also in international einschlägigen Klassifikationssystemen. Wie diese Störungen ist auch Dyskalkulie eine (lebenslang) andauernde Störung mit Krankheitswert. Entsprechend muss Dyskalkulie fachkundig und individualisiert diagnostiziert, gefördert und therapiert werden und in der Regel sind Eingliederungshilfen erforderlich. Schulrechtlich sollte Dyskalkulie gleich betrachtet werden wie Lese- und/oder Rechtschreibstörungen und umschriebenen Entwicklungsstörungen in den Bereichen Motorik und Sprache. Das wäre ein Beitrag zur psychosozialen und körperlichen Gesundheit im umfassenden Sinne der WHO. Quelle: „Diagnostik und Behandlung der Rechenstörung“, URL: https://register.awmf.org/de/leitlinien/detail/028-046, S. 5. |
2022 starteten die Jungen Aktiven des Bundesverbands für Legasthenie und Dyskalkulie e.V. eine Petition an die KMK-Präsidentin, Karin Prien, sowie ihre Kolleginnen und Kollegen auf Länderebene. Diese Petition fordert die Schaffung eines bundesweiten Nachteilsausgleichs bei Dyskalkulie und wurde inzwischen von fast 16.000 Menschen unterzeichnet. Quelle: BUNDESVERBAND Legasthenie & Dyskalkulie e.V. (2023): Unsere Projekte, URL: https://www.bvl-legasthenie.de/projekte.html (Zugriff: 16.06.2023). |
Literatur
Bundesverband Legasthenie und Dyskalkulie e. V (2020): Legasthenie in der Schule. Handreichung für Lehrkräfte, URL: https://www.bvl-legasthenie.de/images/static/pdfs/bvl/10__Lehrer_Dyskalkulie_2020.pdf, Berlin. (Zugriff: 15.06.2023)
Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie e. V. (DGKJP) et al. (2018): S3-Leitlinie Diagnostik und Behandlung der Rechenstörung. Medizin, AWMF Portal der wissenschaftlichen Medizin, URL: https://register.awmf.org/de/leitlinien/detail/028-046, Berlin. (Zugriff: 15.06.2023)
Kultusministerkonferenz (2003): Grundsätze zur Förderung von Schülerinnen und Schülern mit besonderen Schwierigkeiten im Lesen und Rechtschreiben oder im Rechnen, URL: https://www.kmk.org/fileadmin/veroeffentlichungen_beschluesse/2003/2003_12_04-Lese-Rechtschreibschwaeche.pdf, (Beschluss der Kultusministerkonferenz vom 04.12.2003 i.d.F. vom 15.11.2007).